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Die bedrückende Geschichte von Thanksgiving

So ist das multikulturelle "Love-Fest" Thanksgiving zwischen den Pilgrims und den Indianern tatsächlich verlaufen.

Kathrin Pilz

Wer auswandert, muss damit rechnen, dass den im Ausland geborenen Kindern andere Traditionen wichtig sind als die, mit denen man selbst aufgewachsen ist. Dennoch hatte ich vor wenigen Jahren nicht erwartet, dass mein damals sechsjähriger Sohn in bittere Tränen der Enttäuschung ausbrechen würde, als ich ihm mitteilte, dass ich zu Thanksgiving keinen ganzen Truthahn servieren würde.

Mein Mann war beruflich in Europa und da mir Thanksgiving nach all den Jahren in den USA immer noch kaum etwas bedeutete, hatte ich zwar ein festliches Essen geplant, aber ohne Turkey. Ich fühlte mich überfordert von den übergroßen tiefgefrorenen Vögeln, die mehr als zehn Kilogramm wiegen und die hier jedes Jahr am letzten Donnerstag im November vom Supermarkt nach Hause geschleppt werden. Überdies hat Truthahnfleisch, das in ungeübten Händen schnell zäh und trocken wird, wenig kulinarische Anziehungskraft auf mich. Glücklicherweise wurde ich von einer amerikanischen Freundin gerettet, die mich in letzter Minute zu einem Turkey-Dinner mit 20 Gästen und gleich zwei extragroßen Truthähnen einlud. Mein Sohn war zufrieden und durfte sogar das "Wishbone" brechen, eine eigenwillige Tradition, bei der zwei Leute das Schlüsselbein des Megavogels brechen. Wer die größere Hälfte erwischt, hat angeblich mehr Glück im darauffolgenden Jahr.

Die Tatsache, dass beim wichtigsten Familienfest der USA die meiste Zeit das TV-Gerät läuft, ist ebenfalls verwunderlich. Immerhin legten auch heuer 38,4 Millionen Amerikaner im Schnitt 214 Meilen zurück, um das Fest mit Verwandten verbringen zu können. Viel Aufwand, um gemeinsam in den Fernseher zu glotzen. Noch dazu, da traditionell American Football läuft, ein brutaler Sport, der wenig mit Besinnlichkeit oder Danksagung zu tun hat. Vielleicht aber ist dieser Sport passender, als man glaubt, wenn man den historischen Hintergrund unter die Lupe nimmt. Mein Sohn David, der mittlerweile zwölf Jahre alt ist und sich zunehmend zu einem kritischen Denker entwickelt, will zwar seinen jährlichen Truthahn nicht missen, doch auch er hinterfragt mittlerweile die weichgewaschene Version der Geschichte, welche das erste Thanksgiving romantisiert und als multikulturelles "Love-Fest" zwischen den Pilgrims und Indianern Anfang des 17. Jahrhundert darstellt.

Laut dem Historiker Robert Jensen markiert Thanksgiving den Beginn eines der dunkelsten Kapitel in der amerikanischen Geschichte: den Massengenozid der weißen Kolonialisten an den indianischen Ureinwohnern. Laut Jensen war das ursprüngliche Thanksgiving kein romantisches Friedensmahl. Vielmehr wurde das Fest 1637 von Massachusetts-Bay-Governor John Winthrop ins Leben gerufen, um sich bei Gott für den Sieg über die 700 wehrlosen Pequot-Indianer zu bedanken, die von den weißen Pilgervätern massakriert worden waren.

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